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Überlegungen zum Projekt
von Gert Tschögl
 

In der Beziehung zwischen einer Photographie und Worten verlangt die Photographie nach einer Interpretation, und die Worte liefern sie ihr gewöhnlich.
Die Photographie - als Beweis unwiderlegbar, aber unsicher, was den Sinn angeht - erhält Sinn erst durch Worte.
(BERGER 1984, 92)

 

Dieser Text entstand während eines Arbeitsurlaubes. Neben dem Fotoapparat mit im Gepäck: Literatur von Bourdieu, Barthes, Berger und anderen. Das Durchwühlen und Durchstöbern der Texte fördert Zitate zu Tage. Durch Zitate sucht sich ein Text Zugang in die Welt der Wissenschaft; entlang der Zitate werden Gedankenschritte glaubhaft und nachvollziehbar. Spuren werden ausgelegt für die Leserschaft.

An den Nachmittagen des Arbeitsurlaubes besinnen wir uns auf das, weswegen wir auch hergekommen sind. Mit dem Fotoapparat, der "Schachtel für den Transport von Erscheinungen" (BERGER 1984, 92), durchstreifen wir Landschaft, Leute und fremde Kultur. Weniger als Waffe, die TouristInnen als Selbstschutz zwischen sich und dem Fremden schieben (vgl. SONTAG 1984, 15f), sondern als Notizblock für fotografische Zitate soll die Kamera dienen. Die Fotos werden den Kreis privater Betrachtungen nicht verlassen. Zwar versucht Regeln der Technik und Bildgestaltung zu berücksichtigen, werde ich als "Knipser" (vgl. STARL 1995, 22ff) auch die überbelichteten, verwackelten und "mißlungen" Bilder aufbewahren. Denn auch in diesen Fotos liegt das projektive Moment bereits beim Betätigen des Auslösers: Der Knipser legt "eine Spur in die Zukunft, einen unsichtbaren Faden, entlang dessen die Erinnerung zu den bedeutsamen Augenblicken zurückfindet." (ebd., 23) Zurück in Wien werden wir wieder Flohmärkte, Dachböden und Nachläße durchwühlen. Eine Suche nach fotografischen Dokumenten uns fremder Lebensgeschichten, die ihrem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang entrissen zum Fragment geworden sind.

In Schubladen, auf Dachböden, in Kartons und Schachteln findet sich die Geschichte des Privaten - ein fotografischer Kosmos von Lebensgeschichten, tausendfach abgelichtete Momente des sich-Erinnern-wollens. Ein scheinbar kollektives Unternehmen, das die Gesamtheit privater Lebensgeschichten abzubilden versucht - gleichzeitig Gesamtkunstwerk und ethnografisch-historische Totalerhebung. Die Bedeutung der Fotografien vorausahnend schrieb Ernest Lacan 1856: "Die Photographie registriert Stück für Stück auf ihren magischen Platten die erinnerungswürdigen Ereignisse unseres kollektiven Lebens und bereichert auf diese Weise mit wertvollen Dokumenten die Archive der Geschichte." (zit. nach PEACH 1990, 111)

Doch mit der Flut der Bilder geht die Erinnerung an sie verloren. Der Text zum Bild, von Generation zu Generation weitergegeben, vergißt sich allmählich. Geschichte erzählt aus den Familienalben vergilbt mit den Fotos; "Knipserfotografie" die nur sich selbst bedeuten will verzichtet auf Beschriftungen - Datum, Orte, Personen, Geschehnisse verschweigen sich auf nie eingeklebten und unbeschrifteten Fotos. Geht das Interesse an den Kartons voller fotografischer Geschichte und Geschichten verloren, verschwindet auch die begleitende Erzählung; Personen und Geschehnisse geraten in Vergessenheit.

Viele dieser lebensgeschichtlichen Spuren, gemacht für die ganz private Erinnerung, finden sich auf Flohmärkten und in Antiquariaten wieder; erstmals den Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben. Sie sind unser Ausgangsmaterial für das "Museum der Erinnerungen". Kategorisiert und verschlagwortet, mit Fundort und Fundzeit versehen, finden sie Einlaß in unser Archiv. Durch den Prozeß der Archivierung, verleihen wir ihnen Attribute als wissenschaftlich-historische Quelle. Dem lieblosen Umgang auf Flohmärkten entrissen und unserem beschützenden Archiv anonymer Fotografien einverleibt, setzten wir die Bilder aber erneut den Blicken der Öffentlichkeit aus. Diesmal gezielt - als Experiment.

Im Zusammenhang mit Familienfotos führt Patricia Holland den Begriff user und reader ein. User kennen den Kontext zwischen Foto, Erinnerung und Bedeutung, während reader diese Zusammenhänge erst erschließen müssen. (vgl. HOLLAND 1997, 107) Einst vom user für den Eigengebrauch hergestellt oder in Verwendung, werden diese Bilder nun dem reader zur Entschlüsselung angeboten, um den Fotografien wieder eine (andere) Bedeutung zurückzugeben. "Wrenched from that context, they appear thin and ephemeral, offering little in the way of either aesthetic pleasure or historical documentation. But, although such ghostly hints of other lives may tempt the reader to engage in the detective project and to construct stories from these tentative clues, the empirical historian would do well to treat them with extreme caution." (ebd., 107)

Vorsicht wird HistorikerInnen also empfohlen, denn das Problem der Wissenschaften mit historischem Ansatz im Umgang mit Fotografie als Dokument ist vielschichtig. Von der "Zeitlosigkeit" der Fotografie, die keine Zeitspanne und somit keinen historischen Prozeß zu dokumentieren vermag, über die "Unlesbarkeit" fotografischer Informationen, deren Codes mit konventionellen textorientierten historischen Methoden unverstanden bleiben (vgl. ORTOLEVA 1/1989, 5ff und SCHMID 1986, 280), bis hin zur Möglichkeit der Manipulierbarkeit durch digitale Fototechniken, welche keinerlei Spuren von Eingriffen oder Fälschungen hinterlassen, reichen die Vorbehalte von vielen HistorikerInnen, die Fotografie als Dokument und Quelle der historischen Forschung anzuerkennen.

Bild und Narration, sei es als Bildunterschrift beigegebener Text oder Erinnerung, bilden in ihrer Verbindung aber eine neue Qualität der Aussage: "Die Photographie, dieser (vermeintliche) Abklatsch der Wirklichkeit sagt nichts aus über die historische Realität, erst in Verbindung mit einem erklärenden Text gibt sie gewisse Informationen frei. Dagegen vermittelt sie eigenständig und besser als das Wort, die Bilder, die sich die Vergangenheit von sich selber macht." (FRITZSCHE 1996, 23f), (vgl. auch RUTSCHKY 1996, 117-133). Die weitverbreitete und oft unbewußte Gewohnheit, Text und Bild als Ganzes zu lesen und die damit eingeleitete Interpretation und Eingrenzung des Bildes durch den Text (vgl. ORTOLEVA 2/1989, 5f) verhindert das Erkennen der Vieldeutigkeit von Fotografien. "Alle Photographien sind vieldeutig. Alle Photographien sind aus dem Zusammenhang gerissen. Wenn das Ereignis ein öffentliches Ereignis ist, so ist dieser Zusammenhang die Geschichte. Wenn es persönlich ist, so ist die Kontinuität, die hier unterbrochen wird, eine Lebens-Geschichte. [...] Diskontinuität bringt immer Vieldeutigkeit hervor. Aber manchmal ist diese Vieldeutigkeit nicht offensichtlich, denn sobald Photographien mit Worten zusammen verwendet werden, haben sie die Wirkung einer Gewißheit, ja sogar einer dogmatischen Behauptung." (BERGER 1984, 90f)

In der Gegenüberstellung eines Bildes mit den von ihm ausgelösten unterschiedlichen Erinnerungen und Assoziationen wird die Gewißheit des Authentischen, geschaffen durch die Verbindung von Foto und Text, gebrochen. Die Vieldeutigkeit des Bildes wird erkennbar.

Der Akt des Betrachtens von Fotografien, sofern diese nicht durch ihren Bekanntheitsgrad schon als Symbol für ein in das kollektive Bewußtsein eingegangenes Bildnis der Geschichte stehen, trägt Momente in sich, die das Erinnerungsvermögen an Vergangenes bei den BetrachterInnen aufstacheln. Durch die Veröffentlichung von anonymen Fotografien schafft sich das "Museum der Erinnerungen" Zugang zu den persönlichen Erinnerungen der BetrachterInnen an zeitgeschichtliche Ereignisse und Lebens-Geschichten. Gleichsam einem Rorschach-Test werden Assoziationen zum individuellen Erleben der Geschichte freigelegt.

Was sich vom Standpunkt des wissenschaftlichen Zugangs dieses Projekt als methodisches Experiment über das Bild zu Erinnerungen zu gelangen, darstellt, ist vom künstlerischen Zugang her, der in den 70er Jahren entstanden Richtung der Spurensicherung zuordenbar.

Der/die KünstlerIn will das Erinnern - wie auch in der Wissenschaft und in der musealen Praxis - durch Dokumente, Bilder und Gegenstände - systematisieren. Nicht unähnlich der Archäologie wird durch freigelegte Reste auf vergangene Zustände geschlossen. Dabei ist der/die KünstlerIn aber nicht an historischer Genauigkeit und objektiver Rekonstruktion interessiert auch wenn er/sie ausgräbt, sammelt, inventarisiert und klassifiziert, denn "zum Selbstverständnis der Spurensicherung gehört ihre scheinbare Wissenschaftlichkeit." (METKEN 1977, 12) - Vielmehr kommt es ihm/ihr darauf an, die Erinnerung aufzustacheln, "und zwar die persönliche Erinnerung, die die Erlebnisgeschichten des einzelnen aufruft und vergleichend mit anderen in Verbindung bringt." (ebd., 12) Formale Kriterien der Auswahl von Objekten und Bildern oder der Präsentationstechnik unterliegen dabei dem subjektiven Zugang des/der Künstlerin.

Das Projekt "Museum der Erinnerungen" veröffentlicht in einer burgenländischen Wochenzeitung, in einer für AuslandburgenländerInnen herausgegebenen Zeitschrift und im Internet 24 anonyme, gefundene Fotografien. Die LeserInnen können Assoziationen und Erinnerungen zu den einzelnen Fotos als Text einsenden. In Ausstellungen im Burgenland und im Internet werden anschließend alle Fotos gemeinsam mit den als Bildunterschriften montierten Texten ausgestellt. Im Nebeneinander der verschiedenen assoziativen Texte und der Bilder werden Erinnerungen und Interpretation geschichtlicher Ereignisse ihrer Absolutheit und Gewißheit entkleidet - und dies gilt für den Text und das fotografische Bildnis gleichermaßen.
e-mail: mpoffice@memoryprojects.at
 

Literatur
BERGER John: Erscheinungen. In: BERGER J. / MOHR J: Eine andere Art zu erzählen. Wien 1984, Carl Hanser
FRITZSCHE Bruno: Das Bild als historische Quelle. Über den (Nicht-) Gebrauch von Bildern in der historischen Forschung. In: VOLK Andreas (Hg): Vom Bild zum Text. Die Photographiebetrachtung als Quelle Sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Zürich 1996, Seismo Verlag, [= Soziographie, Jg 8, Nr 1/2(10/11), 1995
HOLLAND Patricia: "Sweet it is to scan ..." Personal photographs and popular photography. In: WELLS Liz (Ed): Photography. London 1997
METKEN Günter: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst. Köln 1977, Dumont
ORTOLEVA Peppino: Photographie und Geschichtswissenschaft. In: JAGSCHITZ Gerhard (Hg): Photographie und Gesellschaft. Zeitschrift für photographische Imagologie. Nr 1, 2, 3/4, Wien 1989
PAECH Joachim: Rette, wer kann ( ). Zur (Un) Möglichkeit des Dokumentarfilms im Zeitalter der Simulation. In: BLÜMLINGER Christa (Hg): Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wien 1990, Sonderzahl Verlag
RUTSCHKY Michael: Foto mit Unterschrift. Über ein unsichtbares Genre. In: VOLK Andreas (Hg): Vom Bild zum Text. Die Photographiebetrachtung als Quelle Sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Zürich 1996, Seismo Verlag, [= Soziographie, Jg 8, Nr 1/2(10/11), 1995]
SCHMID Georg: Geschichtsbilder. Von der Metaphorik zur Wörtlichkeit und retour. In: Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien (Hg): Zeitgeschichte. Heft 8, Wien 1986
SONTAG Susan: Über Fotografie. Frankfurt/Main 1984, Fischer TB
STARL Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Münchner Stadtmuseum vom 14.6.-20.8.1995. München 1995, Verlag Koehler & Amelang



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