"Ich glaube, dass die Anthropologie ständig
die Phantasie anregt. Wenn man mit der
eigenen Kultur in ältere, ursprünglichere
ordnend eingreift, indem man klassifiziert,
etikettiert, ist zugleich Imagination im Spiel. ´
Ich glaube, die Imagination stellt die
Verbindung her zwischen dem Bereich der
Anthropologie und dem der Kunst."
Interview mit Claudio COSTA in METKEN 1977, S 86.
REISEN ZU LANDE UND IM KOPF
Vom Verlauf der Reisen Richard Payer´s nach Amazonien und
seiner fiktiven Bekanntschaft mit Uriji Jami
eine essayistisch - fragmentarische Annäherung an eine Ausstellungsidee
Historiographie und Ethnographie sind die Erzählkunst der Geschichtswissenschaft
und Ethnologie. Sie sind die Textwerdung der historischen Rekonstruktion und
das Archiv der geschichtlichen Erinnerung. Fiktionen stellen die Beziehungen
her, erdachte und erfundene, sie deuten Zusammenhänge, erklären Fragmente.
Nennen wir es Interpretation in der Wissenschaft, Inszenierung im Museum,
Illusion beim Reisen oder Exotik im Fremden. Verdrängt
und negiert in den Betrachtungen über das Fremde und zur Unvereinbarkeit
erklärt durch die Wissenschaft und den Augen des Betrachters vorenthalten,
ist "Fiktionalisierung [...] in geschichtlicher Erfahrung [und Historiographie,
Anm. g.t.] immer schon am Werk" (JAUSS 1982, S 416);
Fiktionen "müssen unweigerlich ins Spiel kommen, wenn Geschichtsschreibung
mehr zu sein beansprucht als eine blosse Archivierung des Wissens vom Vergangenen
- wenn es ihr darum geht, die Erfahrung der Vergangenheit für die jeweilige
Gegenwart kraft der Funktion des Fiktiven zu erschliessen und mitteilbar zu
machen." (JAUSS 1982, S 416f). Durch die Ethnopoetik
bei Lévi-Strauss, Leiris oder Fichte eröffnen sich neue Erfahrungs- und
Darstellungsmöglichkeiten, die die "Vergangenheit auch dokumentarisch
und historisch in einem literarischen Entwurf zu rekonstruieren" (HEINRICHS
1977, S 32) vermögen - Fiktionen der Poesie bemächtigen sich des Textes.
In Daniel Spoerris sentimentalen Museum "vermitteln die Werke nicht über
die Rekonstruktion von Geschichte, sondern über Geschichten die zu den
Objekten erzählt werden." (BROCK zit. in KAMBER
1990, S 72) - auch hier: Fiktionen betreten den Ausstellungsraum. Um der Hyperrealität
der Inszenierung und deren konstruierten Elementen in historischen Ausstellungen
zu begegnen ist die Re-Dimensionierung von Objekten durch Erklärung, Erzählung,
Inszenierung und Ambiente notwendig. Re-Dimensionierung hat etwas Fiktionales
an sich (vgl. KORFF/ROTH 1990, 9-40); und so muss
"dem Pathos historischer Wahrheit die Ironie gebrochener Geschichtsbilder"
entgegengesetzt werden (HEINISCH zit. in GRÜTTER
o. J., S 183). So ist das Museum oder eine Ausstellung nicht da, um eine Ersatzwelt
zu schaffen, die den Blick im Reich eines fernen oder schönen Scheins
umherwandern lässt, sondern es ist eine Passage, ein Durchgangsort. "Wir
verweilen bei der Darbietung von Sichtbarem, das selbst sichtbar macht und
uns die Welt anders sehen lässt, in gesteigerter, zugespitzter oder verfremdeter
Form [...]" (WALDENFELS 1990, S 233).
Sammeln ist Erinnern und Konservieren; das Gesammelte ist die fragmentarische
Momentaufnahme der Aneignung einer anderen Welt als der eigenen. Zusammengeführt
in Sammlungen, werden die Objekte zur verdichteten Anordnung der Weltsicht
des Sammlers. Kunst- und Raritätenkabinette der Neuzeit - "Diese mit neuzeitlichen
enzyklopädischen Ehrgeiz angelegten Universalkollektionen, in denen sich
die geographischen, ethnologischen, historischen und naturkundlichen Kenntnisse
zu einem anschaulichen Wissenskonzentrat und verkleinerten Spiegelbild der
Welt verdichten sollten [...]" (KOPPLIN 1987, S
298) - waren Boten des heraufdämmernden wissenschaftlichen Ordnungs- und
Kategoriesierungsprinzipes und Beginn der Archivierungs- und Erinnerungsmaschine
Museum. Repräsentative Vollständigkeit war und ist das Sammlungsziel
- in den Auswahlkriterien liegt das Eingeständnis der Unmöglichkeit,
die Welt zu verwahren. Sammelkriterien und Auswahl sind die Strategien für
die Machbarkeit einer verkürzten Weltdarstellung. Die Sammlung bleibt
fragmentarisch - ihre Objekte isoliert: "Vitrinen haben die Eigenschaft, etwas
zum Stillstand zu bringen. Auch die Scheibe sperrt und schliesst das Bild
ab, indem sie es vom Leben abtrennt. In der Vitrine steht das durch Glas geschützte
Kunstwerk in der Zeit still." (COSTA zit. in METKEN
1977, S 88). Objekte aus Sammlungen sind Fragmente ihrer ursprünglichen
Natur oder Kultur. Sie sind wie einem Film entnommene Einzelbilder. Einzelbilder
eines Filmes ihrem ursprünglichen Zweck, dem Auge des Betrachters Kontinuität
und Zusammenhang zu geben, entrissen, werden zu Momentaufnahmen - fragmentarisch
und ohne erkennbaren Zweck ihrer Belichtung. Rekonstruktionsversuche des Originales
scheitern an der Unvollständigkeit des Materials. Museen sind die Heimat
der gesammelten Fragmente. Durch Überlassungen und Schenkungen der Zufälligkeit
ausgesetzt und durch Ankäufe der Systematik einverleibt, sind Sammlungen
der Rohstoff des Erhaltens und Pool für die Werkstatt der Wissenschaft.
Aus den Depots geholt, werden museale Arrangements und Ausstellungen zu Sinnstiftern
der Exponate und collagieren Zusammenhänge für den Betrachter. Funktion
und Sinn der Objekte nehmen dadurch Kontur an und entsteigen ihrer Zusammenhanglosigkeit.
Fiktion und Imagination sind dabei das Füllmaterial des rekonstruierten
Zusammenhanges. Beschreibende Texte und Inszenierung ersetzen das ursprüngliche
natürliche und kulturelle Umfeld des Gegenstandes. Die Interpretation
der Fragmente ist das Drehbuch, Austellungsmacher sind die Regisseure. Das
neue Filmwerk soll das Original vorstellbar machen.
FRAGMENT 3: Das Reisen
Reisen ist das Herz der Ethnologie (vgl. WAHRLICH
1984, S 61-99) - Reisen ist Bereicherung - materiell und ideell. Zu reisen
bedeutet zu fahren, zu "er-fahren", durchzumachen, zu erleiden (vgl. WAHRLICH
1984, S 101f), Neugier zu stillen und Erkenntnis zu gewinnen. Reisen ist messbar
in Entfernungen, beschreibbar im Exotischen. Das Reisen in die Fremde war
und ist die Vorraussetzung der Ethnographie und seiner Museen, und wird zum
notwendigen Ritual der Ethnologen (vgl. GINGRICH
1992, S 161ff). Wird das Gesehene aber zu fremdartig, kann es nicht mehr erfasst
werden, es bleibt nur eine "verworrene Erinnerung" (GIDE zit. in SCHULTZ
1995, S 75).In den Erzählungen der Reisenden liegt der Verdacht der Übertreibung
und Fiktion. "Reisende geniessen seit je einen schlechten Ruf" (BRENNER
1989, S14). Das Bild von der Fremde in den Berichten der Reisenden entsteht
in der eigenen Kultur; die Affinität zur Lüge und Erfindung bringt
den Reisebericht in unlauterer Nähe zur Fiktion (vgl. BRENNER
1989, S 14f). In die Fremde zu fahren bedeutet das "Normal-Profane" hinter
sich zu lassen und in das "Abnormal- Sacred" zu gleiten (GRABURN
1978, S 20f); eine rite de passage - begleitet vom Schmerz des Abschiedes
und dem Überschreiten von sozialen und kulturellen Grenzen. Und es ist
die Befriedigung eines Triebes, der vielleicht Neugier und Sehnsucht ist.
Beute-Heimbringen ist das Merkmal aller Reisen (ISTLER
1992, S 14); der Beweis der Passage und des erweiterten Horizontes.
"Die Suche nach dem Primitiven und Archaischen, ob in der Kunst, im Alltag
oder etwa in der Anthropologie [...], ist das Bestreben, die Vergangenheit
in unsere Gegenwart und Zukunft hineinzuholen" (HEINRICHS zit. in: SCHULTZ
1995, S 60) - und es ist die Flucht aus einer der Mystik und der Unerklärlichkeit
entsagenden modernen Welt. Das Nicht-Verstehen ist ein Bestandteil des Exotismus
für Victor Segalen, er ist nicht das vollkommene Verstehen eines Anderen,
sondern die schmerzliche und unmittelbare Wahrnehmung eines ewigen Nicht-Verstehens
(vgl. HEINRICHS zit. in: SCHULTZ 1995, S 60) Ein
Wechselspiel zwischen Suche nach Fremden und Abwenden von Fremden. Das Fremde
als Kontrast zum Eigenen überschreitet Grenzen der eigenen Ordnung. Ein
schillerndes Etwas zwischen Befremdendem, Verlockendem und Bedrohlichem welches
nach Bewältigung ruft. Gebändigt durch Aneignung und sich-zueigenmachen
wird das Fremde durch die "Sammlung alles Verständlichen in einem Logos"
bewältigt - die "sammelnde Vernunft unserer Museen". Aneignung als Bändigung
der Fremdheit. (vgl. WALDENFELS 1990, S 60ff). Die
Antithese dazu: Die Enteignung als Auslieferung an das Fremde. Das Fremde
tritt an die Stelle des Eigenen. Der Wilde wird zum edlen Wilden, das Bedrohliche
wird zum Exotischen. Die Erforschung des Eigenen macht den Umweg durch das
Fremde. (vgl. WALDENFELS 1990, S.62ff)
Die vier Fragmente vereinigen sich inhaltlich durch zwei Protagonisten zur
Ausstellungseinheit. Der österreichische Reisende und Forscher Richard
Payer und ein Angehöriger einer fremden Kultur treffen in diesem Ausstellungs-Essay
aufeinander. In den Biografien dieser beiden Personen widerspiegeln sich die
vier Begriffe Fiktion, Sammeln, Reisen und das Fremde. Die Biografie des Wissenschaftlers
ist historisch real, die Biografie des Fremden, ähnlich einer Romanfigur
eines historischen Romanes, fiktiv. Beide Sammeln auf ihre Weise, beide sind
Reisende in die Welt des anderen und beide sind sich gegenseitig Fremde. Erst
das künstlerisch fiktive Aufeinandertreffen von Realität und Fiktion
schafft aus den historischen Fragmenten des Reisenden Richard Payer (vgl.
ZEILINGER 1992, S 139-142) und der freierfunden
Figur des Uriji Jami einen neuen möglichen Standpunkt in der Betrachtung
historischer Vorgänge.
DER VIRTUELLE GANG DURCH DIE AUSSTELLUNG